Man wird sich öfters nicht enthalten können, die Worte Physiognomie,
Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft
schließt vom Äußern aufs Innere. Aber was ist das Äußere am Menschen?
Wahrlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Gebärden, die seine
innern Kräfte und deren Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit,
Besitztümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn. Durch alle
diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden
Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen sich auf sein Wesen
sicher schließen läßt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu sein. Nur
getrost! Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt
auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren läßt,
modifiziert er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrat
eines Mannes sicher auf dessen Charakter schließen. Die Natur bildet den
Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder
natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt,
ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem
Bilde.
Goethe. Anteil an Lavaters Physiognomischen Fragmenten.
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